Mit ihrer Hauptfigur wagt Jenny Erpenbeck einen Schnitt durch ein Menschenleben im 20. Jahrhundert. Zu Beginn, Anfang des letzten Jahrhunderts, lässt sie ein Mädchen als Säugling sterben und von diesem Punkt aus ersinnt sie in den folgenden Abschnitten verschiedene, mögliche Lebenswege des Babys, wenn es nicht gestorben wäre. Im zweiten Teil trifft der Leser eine Achtzehnjährige bei ihrer ersten Liebe in Wien, dann als siebenunddreißigjährige, verheiratete Kommunistin in Moskau und schließlich als alte Frau, die die Wende im Jahre 1989 in einem Berliner Pflegeheim erlebt.
Manchem erscheint diese Lesart kompliziert und man muss sich tatsächlich einlassen können auf die in sich abgeschlossenen Kapitel, die womöglich nur scheinbar einen endgültigen Schluss haben. Immer wieder muss man sich fragen: Ist die Hauptfigur wirklich jeweils am Ende ihres Lebens angekommen? Man mag es gerade zu Beginn der Handlung nicht glauben, da die Vorstellung, dass ein Mensch viel zu jung stirbt, immer dramatisch anmutet. Das einzig Fortlaufende in dem Roman ist der konstante Blick auf das ganze Jahrhundert, wodurch man nebenbei viele geschichtliche Aspekte miterlebt, jeweils aus der Sichtweise der Hauptfigur.
Jenny Erpenbeck ist es gelungen, mehrere Biografien in einer entstehen zu lassen. Durch den Wechsel von Perspektive und Tonlage lässt sich dieser auf den ersten Blick umständlich erzählte Roman kurzweilig lesen. Man darf und wird gespannt sein, wie sich die jeweiligen Leben des Mädchens am Ende zusammenfügen.
Jenny Erpenbeck, die aus einer Schriftstellerfamilie stammt, wollte gerade das nicht: Autorin sein. Daher studierte die Berlinerin nach einer Buchbinderlehre erst einmal Theaterwissenschaften und inszenierte anschließend auch einige Stücke. Nachdem ihr Schriftsteller-Debüt mit der „Geschichte vom alten Kind“ (1999) aber gut ankam, blieb sie doch beim Schreiben.
In diesem Jahr war sie mit dem hier präsentierten Roman Anwärterin auf den Deutschen Buchpreis. Den gewann sie zwar nicht, dafür – auch für frühere Werke – zahlreiche andere Literaturpreise!